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Tag 19 – Malte

»Vier Tote auf unserer Seite«, berichtete der Major, »und fünfzehn Verletzte. Auf der Gegenseite gab es 37 Gefallene. Wir haben zehn Verwundete gefangengenommen. Der Angriff startete zur Dämmerung, die tiefstehende Sonne wurde, bewusst oder unbewusst, als Vorteil genutzt. Nach meiner Einschätzung war die Aktion nicht koordiniert, es ist aber nicht auszuschließen, dass jemand die Meute aufgehetzt hat, um uns zu schwächen oder unsere Verteidigung zu testen.«

»Wie meinen Sie das?« Robert Kempf runzelte die Stirn. Der Rat hatte sich am späten Vormittag bei ihm versammelt, um den Überfall zu analysieren.

Der Major ging hin und her: »Vermutlich waren das mindestens 500 Menschen, Schusswaffen hatten nur wenige. Hätte man die Menge verteilt und uns an zwei Stellen gleichzeitig angegriffen, wären wir dazu gezwungen gewesen, unsere Kräfte aufzuteilen. Jemand mit militärischem Verstand hätte die Angreifer mit Pistolen und Gewehren nicht mitten in der Menge mitlaufen, sondern aus geschützter Position ihre Ziele anvisieren lassen. Es gibt etliche Möglichkeiten, das geschickter zu machen.«

»Sind die Gefangenen vernehmbar?«, fragte Pape. »Die werden doch Auskunft geben können?«

»Die meisten sind aktuell im Spital«, erklärte der Major, »und es steht nicht gut um sie. Zwei haben Schusswunden an den Beinen und waren gesprächig, konnten aber wenig Auskunft geben. Eine kleine Gruppe wäre durch Niedergirmes gelaufen und hatte ›Wir holen uns das Essen aus Umbach‹ gerufen, und denen sind sie gefolgt. Bis sie das Ende von Naunheim erreicht hatten, wäre die Gruppe riesig angewachsen. Eine genaue Beschreibung der kleinen Gruppe vom Anfang konnten sie nicht geben.«

»Die Angreifer werden von uns behandelt?«, regte sich Holzer auf. »Wieso?«

»Carl«, versuchte Kempf ihn zu beruhigen, »wir sind …«

»Robert«, unterbrach Holzer. »Die wollten unsere Leute töten! Die Medikamente werden knapp, Verbandsmaterial auch. Warum sollten wir das an solchen Hurensöhnen verschwenden!«

Malte war schockiert: »Du willst so von jetzt auf gleich humanitäres Recht aufgeben?«

Holzer schaute ihn ernst an: »Die haben uns angegriffen. Die haben sich nicht an die Regeln gehalten. Die haben vier unserer Einwohner getötet, hätten mehr umgebracht, unser Essen geraubt und unsere Frauen vergewaltigt.«

An der Pforte angekommen, bot sich Malte eine Kopie der Berichte von dem Angriff am Abend zuvor. Der Gegner schien aus den Rückschlägen gelernt zu haben, verteilte sich auf dem Feld und bot so schwierigere Ziele. Trotzdem waren nur wenige mit Pistolen und Gewehren bewaffnet und die Felder boten kaum Schutz. Malte schätze die ihnen entgegenkommende Menge auf zweihundert Männer und Frauen, denen standen nur etwa dreißig Milizionäre auf ihrer Seite gegenüber.

»Wir brauchen mehr Leute«, flüsterte Malte.

»›Wir‹ sind ›mehr Leute‹«, erklärte Nadine und ging direkt zum Wachposten, wo sie mit Alexander, dem Adjutanten des Majors, sprach.

Der winkte Robert und Malte zu sich, nahm zwei Pistolen mit Munitionsschachteln, drückte sie ihnen in die Hand und erklärte, mit leicht russischem Akzent: »Ich wünschte, ich hätte Zeit für eine Einweisung.«

An einer dritten Waffe führte er vor, wie man sie belud: »Ihr könnt uns helfen, wenn ihr dafür sorgt, dass wir geladene Waffen haben. Herr Kempf, Sie bleiben bei mir. Nadine, gehst Du bitte da drüben hin? Und Herr Kinzig, helfen Sie Guido dort drüben.«

Malte erkannte in Guido ein Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr und sofort flammte in ihm die Frage auf, wo sich Lukas befand. Schüsse von der anderen Seite des Ortes holten ihn aus seinen Gedanken, er legte sich bäuchlings neben Guido auf den Wall und spähte nach draußen.

»Hallo Malte«, wurde er kurz begrüßt.

»Hallo Guido«, entgegnete er.

Die Menschen auf der anderen Seite der Befestigung boten einen Anblick des Elends. Die Kleidung war verschmutzt, wirkte oft zu groß. Malte griff unbewusst nach seinem Gürtel, den er mittlerweile zwei Löcher enger schnallen konnte, und wurde sich bewusst, dass er seit dem Stromausfall zumindest nicht hungrig ins Bett gehen musste. Die meisten in der Menge vor ihm hatten vermutlich schon erfahren, wie es war, mit Hunger einzuschlafen.

Als sich die ersten Angreifer auf etwa 50 Meter genähert hatten, eröffneten die mit Gewehren bewaffneten Milizionäre das Feuer. Guido hatte angelegt, gezielt, geschossen und Malte pfiff das Ohr vom lauten Knall.

Auch wenn die Reihen weit auseinandergezogen waren, fanden die Verteidiger Ziele und die ersten Gegner brachen zusammen. Das Feuer wurde von den Angreifern erwidert, außer etwas aufgewühlter Erde am Verteidigungswall richteten sie keinen Schaden an. Trotzdem hatte Malte panische Angst und musste sich anstrengen, sich nicht in die Hose zu machen.

Guido gab ihm das Gewehr, deutete auf die Schachteln mit Munition und ließ sich die Pistole geben: »Mit der Handwaffe muss ich warten, bis sie über den Feldweg kommen. Lade das Gewehr.«

Malte nahm das Gewehr, fingerte mit zittrigen Händen eine Patrone aus der Schachtel. Als er sie in die Waffe legen wollte, wirbelte ein Querschläger Erde auf und die Patrone fiel ihm aus der Hand. Nervös suchte er den Boden ab, fand die Kugel und hob sie auf. Neben ihm knallte der erste Schuss aus der Pistole so laut, dass Malte vor Schreck die Kugel wieder auf den Boden fallen ließ.

Guido schien das aus dem Augenwinkel gesehen zu haben: »Lass sie liegen, die verschmutzt uns nur den Lauf. Nimm eine Neue.«

Malte nahm die Packung, schaffte es, eine weitere Patrone herauszuziehen, und diesmal fand sie ihren Weg in das Gewehr. Er wiederholte das, bis Guido das Gewehr von ihm forderte und ihm die Pistole in die Hand drückte. Er legte an und Malte wunderte, wie er unter den Bedingungen so ruhig zielen konnte, als ein ploppendes Geräusch zu hören war.

»Scheiße!«, brüllte Guido und Malte sah, dass sich auf dem rechten Oberarm ein roter Fleck ausbreitete.

Malte hatte gerade das Magazin der Pistole herausgenommen und wusste nicht, was er machen sollte.

»Ich bring dich zum Sani«, beschloss Malte und wollte ihn wegziehen.

»Vergiss es«, wehrte sich Guido, »lade die Pistole fertig und erwisch so viele, wie es geht!«,

Malte schaute die Waffe in seiner Hand an und dann die näher kommende Bedrohung. Fressen oder gefressen werden, ging es ihm durch den Kopf. Er lud die Pistole, legte mit beiden Händen an und suchte sich ein Ziel. Trotz der Verluste durch das Gewehrfeuer beschleunigten die Angreifer und rannten auf die Befestigung zu. Die Schnellsten waren nur wenige Meter vom Feldweg entfernt, Malte wählte einen kräftigen, bärtigen Mann als Ziel, der mit einem Messer bewaffnet war.

Der Mann erreichte den Feldweg, Malte zielte auf seine Brust und schoss.

Er hatte nicht mit dem Rückstoß gerechnet und die Lautstärke des Knalles überraschte ihn erneut. Sein Ziel hatte er verfehlt und lediglich den Boden neben dem Bärtigen getroffen. Dem wurde bewusst, dass er die Zielscheibe von jemandem war und suchte den auf ihn zielenden Schützen. Malte konnte auf die Entfernung den Gesichtsausdruck kaum erkennen, vielleicht war es Angst, vielleicht Hass. Sein Gegner schien schneller zu werden und der Abstand zwischen ihnen verringerte sich. Malte legte wieder an, zielte mitten auf die Brust, zog den Abzug und war diesmal auf den Rückstoß vorbereitet. Der blieb genauso aus wie der Knall.

»Ladehemmung«, schrie Guido. »Entfern die Kugel und schieß weiter.« Malte öffnete den Verschluss, sah die verklemmte Patrone und schaffte es irgendwie, sie zu entfernen. Der Bärtige hatte Boden gut gemacht, Malte konnte sehen, wie die Kugeln der anderen Umbacher Ziele fanden. Er zielte erneut und diesmal kamen Knall und Rückstoß und ihm schmerzte die Schulter.

… das Kapitel ist hier noch nicht fertig, in dieser Leseprobe schon.